sola gratia

Predigtreihe

Gnadenlos?

Manchmal, liebe Gemeinde, habe ich den Eindruck, wir leben in gnadenlosen Zeiten.

Wir sollen funktionieren. Alles im Griff haben. Unseren Beruf, unser Familienleben, unsere Gesundheit und unseren Körper.

Wir sollen hübsch sein. Schlank. Wir sollen jung aussehen, auch wenn wir alt sind. Und uns fit halten.

Wir sollen organisiert sein und vernetzt. Uns gut verkaufen, erfolgreich sein. Und immer gut gelaunt.

Und wenn's mal nicht so läuft, solls bloß keiner merken.

Aus den Kindern muss was werden. Und karrieretechnisch solls auch vorangehen. Und wenn wir alt sind, sollen wir uns bloß nicht hängen lassen. Wer mag sich schon eingestehen, dass er nicht mehr kann?


Gnaden-los.

Manche spüren das als Druck von außen. Manche auch als Ansprüche, die sie an sich selber haben. Ideale, an die sie heranreichen wollen.

Es gibt Menschen, die zerbrechen an solchem Druck. Verlieren sich selbst, bekommen eine verschobene Selbstwahrnehmung, sind mit nichts zufrieden, sind wie getrieben.

Und bei manchen erlöschen Begeisterung und Lebensfreude wie eine Flamme im Wind.

Burn out.


Es gibt zwei Worte gegen diesen Druck.

Sola Gratia.

Allein Gnade.

Das ist einer der theologischen Grundsätze der reformatorischen Theologie.

500 Jahre ist er alt. Aber er gilt immer. Vor 500 Jahren und jetzt.

Er stellt unser Leben und Denken infrage.

Er fragt uns: Was zählt für dich? Woran orientierst du dich? Was gibt deinem Leben einen Wert?


Luthers Glaubenskampf

Sola Gratia. Allein die Gnade.

Martin Luther hatte viele Jahre lang um Gnade gerungen. Eigentlich sein halbes Leben.

In ihm bohrte immer die gleiche Frage: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Wie werde ich recht vor Gott?

Da waren in den Kirchen und Büchern die ausgeschmückten Bilder vom Weltgericht.

Christus auf dem Thron. Auf der einen Bildseite die Hölle mit den Fratzen und Teufeln und verängstigten Verdammten. Auf der anderen Seite der Himmel mit den Engeln und den Erlösten.

Wo gehöre ich hin?


So viel Martin Luther auch darüber nachdachte, so viel er auch in der Bibel las, die Angst vor Gott nahm nicht ab. Im Gegenteil: Die Unsicherheit wurde immer größer.

Er strengte sich an. Er betete. Er fastete. Er las in der Bibel. Er ging zur Beichte. Er geißelte sich. Er war mit sich selber gnaden-los. Und er fand einfach keinen Seelenfrieden.

Gott war ihm ein unnahbarer strenger Richter. Und er selbst: Klein, bedeutungslos, unwürdig. So viele Fehler, so viele böse Gedanken. Wird Gott mich auf ewig strafen?


Es war ein langer Kampf. Ein zähes Ringen. Und irgendwann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Als der alt gewordene Luther auf seine entscheidende Entdeckung zurückblickte, da formulierte er es so:

"Ich hasste diesen Ausdruck "Gerechtigkeit Gottes", den ich philosophisch zu verstehen gelehrt worden war. Gemäß welcher Gott selbst gerecht ist und die Sünder und Ungerechten straft.

Doch ich klopfte rücksichtslos an jener Stelle im Römerbrief des Paulus an, wo es heißt: Gottes Gerechtigkeit wird in ihm, nämlich im Evangelium offenbar und ich dürstete brennend danach, was Paulus meinte. Bis Gott sich meiner, der ich Tag und Nacht grübelte, erbarmte und ich den Zusammenhang der Wörter beachtete.

Da begann ich Gottes Gerechtigkeit zu verstehen. Als Gerechtigkeit, mit der uns Gott gerecht macht durch Glauben.

Da kam ich mir vor, als sei ich ganz und gar neu geboren und durch die offenen Tore ins Paradies selbst eingegangen."


Sola gratia.

Nicht: eigene Anstrengungen. Nicht: Ablassbriefe. Nicht: Selbstkasteiung. Nicht: ein Leben ohne Fehler und ohne Schuld. Sondern: Nur Gottes Erbarmen. Gottes Liebe. Allein die Gnade.


Eigene Entdeckungen

Sola Gratia. Allein die Gnade.

Ich selbst habe auch meine Glaubensgeschichte mit der Gnade.

Ich war gerade konfirmiert, da wurden Fragen und Zweifel groß.

Nach den Jugendfreizeiten kam ich immer beseelt zurück und wollte so gerne dieses Gefühl der Gottesnähe im Alltag konservieren. Und konnte es nicht.


Und im Jugendkreis fragte uns der Pfarrer: Glaubt ihr auch fest genug? Oder ist euch anderes wichtiger als Jesus? Lasst ihr euch immer wieder abbringen vom festen und tiefen Glauben?

Und wenn ich darüber nachdachte, fiel mir vieles ein, was mich beschäftigte und Tage, an denen ich nicht gebetet hatte und überhaupt zu wenig vertraut.


Glaube ich fest genug? Das habe ich mich oft gefragt. Der innere Frieden aber hat sich nur zeitweise eingestellt. Dann, wenn wir Lobpreisabende hatten. Oder auf Freizeit fuhren.

Und dann kamen die Zweifel doch wieder zurück.


Irgendwann aber hat die Gnade bei mir angeklopft. Zaghaft zuerst. Und dann laut und vernehmlich. Plötzlich habe ich diesen Druck durchschaut. Diese ganzen unbarmherzigen Fragen und Gedanken. Und ich habe zu der Freiheit gefunden, zu der mich Jesus Christus längst befreit hatte.


Sola Gratia.

Nicht: Druck. Nicht Grübeln. Nicht: Perfektionierungsversuche.

Sondern: Die Füße von Gott auf weiten Raum gestellt. Leichtigkeit im Herzen. Gelassen auch mit Zweifeln. Weil Gott mich liebt so wie ich bin und weil er seinen ganz eigenen Weg hat mit mir.

Allein die Gnade.


Wie die Gnade ist

Sola gratia. Allein die Gnade.

Eigentlich ist das Entscheidende unseres Lebens immer Gnade.


Dass du lebst: nicht deine eigene Idee. Und dass du atmest: Kein Entschluss von dir.

Du wurdest ins Leben geliebt. Jemand hat dir deinen Namen gegeben. Und bei der Taufe hat Gott dich bei diesem Namen gerufen und ins Buch des Lebens eingeschrieben.


Denk an deine Talente und an die Möglichkeiten, die dir einfach so in den Schoß gefallen sind.

Erinnere dich an Glück, das sich ereignete.

Das ist Gnade.


Gnade - das ist: wenn dir jemand hilft, ohne an eine Gegenleistung zu denken.

Das ist: Der Busfahrer, der wartet, wenn du hinter dem Bus herläufst. Die Lehrerin, die Geduld mit dir hat. Der Trainer, der dich nicht abschreibt, auch wenn du ein Formtief hast. Der Freund, der sich über eine Mail freut, auch wenn du dich ein halbes Jahr lang nicht gemeldet hast. Und wenn ihr euch trefft ist, es so vertraut wie früher.


Die Gnade sagt dir: Du musst nicht perfekt sein. Du muss nicht immer funktionieren. Du darfst müde sein. Vergesslich. Schlecht gelaunt. Du musst nichts beweisen. Du musst nicht immer alles im Griff haben. Du darfst heulen, wenn dir danach ist. Du bist was wert, auch wenn du dir nicht viel leisten kannst und dir nicht alles glückt und du dem Schönheitsideal nicht entsprichst.


Sola Gratia. Allein die Gnade.

Gott schenkt sie dir. Er hält die Tür zu sich immer offen, was auch immer du getan hast. Er gibt dich nicht auf. Er legt dich nicht fest. Er liebt dich wie du bist.

Du suchst Gott? Du bist von ihm schon längst gefunden.


Gnade, die an Weihnachten Hand und Fuß bekommt

Sola Gratia. Allein die Gnade.

Wir glauben: Eines Tages wurde die Gnade lebendig.

Wurde Fleisch und Blut. Bekam Hand und Fuß. Und ein Gesicht.

Ein Kind. Gerade erst geboren. Rosig und zart. In Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend. Schau hin: Gott für dich!, flüstert uns die Gnade zu.


Alle Jahre wieder, wenn wir Weihnachten feiern, dann erinnern wir uns daran:

Gottes Gnade kommt in die Welt. Verletzlich und sanft.

Gnade, die sich selber klein macht und wir sind groß. Gnade, die nicht einschüchtern will, sondern aufrichten.


Nein, die Welt ist nicht gnaden-los. Gottes Gnade ist in der Welt.

Sie verwandelt die Welt.

Sie verwandelt uns.


Im Titusbrief heißt es: (3,4-7)

Als aber erschien die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Heilands, machte er uns selig

- nicht um der Werke der Gerechtigkeit willen, die wir getan hatten, sondern nach seiner Barmherzigkeit -

durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung im Heiligen Geist,

en er über uns reichlich ausgegossen hat durch Jesus Christus, unsern Heiland,

damit wir, durch dessen Gnade gerecht geworden,

Erben des ewigen Lebens würden nach unsrer Hoffnung.


Amen.